Aus den Mappen quellen sie, an einem Wandvorsprung im Atelier sind sie zu finden, Bilder und Bildchen aus verblichenen Zeitschriften, Postkarten, Reproduktionen, Werbeprospekte, eine kleine Arbeitsbibliothek hütet weitere Vorlagen: Menschen, meistens Figuren, Fußballspieler, Familienfotos aber auch Landschaften, Umgebungen, Situationen. Am Anfang steht immer ein solches Fundstück. Max Diel braucht anscheinend diesen ersten Anstoß, er macht auch kein Geheimnis aus seiner Kunst des Findens, eher beiläufig hütet er ihre Zeugen, und nichts läge ihm ferner als eine ordnende Archivierung. Einen „Atlas“ gibt es nicht. Die Anwesenheit der Inspirationsquellen im Atelier ist so selbstverständlich wie die halbausgedrückten Farbtuben, wie die Wischlappen, Pinsel, Stifte und Skizzenblätter; sie bilden das Ambiente des Arbeitsplatzes. Sie sind Material der hier entstehenden Malerei, deren Arbeitsprozess womöglich mit dem Ablagern der Funde beginnt. Was in Betracht kommt, hat bereits das Stadium einer ersten Skizze, etwas das man festhalten, an dem man weiter arbeiten will, warum nicht: Eine Fundskizze. Dieses Wachstumspotential wird in einer Zeichnung abgetastet, die Möglichkeitsformen des Kommenden begeben sich auf den Prüfstand. Ein oft genug radikaler Ausschnitt fokussiert das energetische Potential der Fundskizze. Einen Projektor braucht er nicht, die neuen Umrisse werden auf der Leinwand fixiert und entfernen sich damit selbstbewusst von der Vorlage. Die Bilder und Bildchen verblassen, das Gemälde lässt seine ersten Anregungen hinter sich, je weiter es Form annimmt.

Spätestens im Umgang mit der Farbe lockert sich der Kontakt zur Fundsache. In diesem Augenblick hat sich sozusagen die Lautstärke verändert; ohnehin atomisieren die bevorzugten großen Formate den ursprünglichen Bildfund und überführen ihn in eine neue Unübersichtlichkeit. Manche Szenerien sind nur noch schwer wieder zu erkennen, oder sie wirken bewusst entstellt. Die „Wildnis“ (2006) findet im Käfig statt, der Maschendraht drängt sich ungebührlich in den Vordergrund und zerhackt den großen Raubvogel in ein nervöses Mosaik. Die Arbeit am Motiv verselbständigt sich, die Aneignung durch die Malerei produziert ihre eigene Welt. Der Blick fällt immer wieder auf souveräne Details, wo der Pinsel in einem Zug schöne Schleifen setzt; die zeichnerische Qualität der Gesten ist offensichtlich. Das Glas einer Drehtür wird gekonnt verwischt zur Demonstration von Räumlichkeit und Transparenz („Drehkreuz“ 2006). Farben begegnen sich. Der Maler hat ein Gefühl für aparte Mischungen entwickelt. Unter dem sondierenden Mikroskop des Betrachters ist sozusagen ‚Farbfeldmalerei’ zu sehen, auch beim Zurücktreten bleiben diese Inseln bestehen. Manchmal scheint das ganze Bild Ergebnis eines unmittelbaren, ungeteilten Zugriffs zu sein, es gibt eindrückliche Studien über Licht und Schatten, die eine geradezu nachmittägliche Wärme ausstrahlen; wenn etwa eine charakterstarke Weide diagonal in die Bildfläche, sprich über das blaue Wasser ragt, das durch dunkle Schattenfelder leicht bewegt erscheint. Dann ist zuallererst ‚Landschaft’ angesagt, das Figürliche meldet sich ohne Widerstand, - der Ausschnitt ist in die Totale zurückgetreten. Ein Film läuft ab und bleibt im richtigen Augenblick stehen, die Kamera unterbricht einen Schwenk. Beim genauen Hinsehen wird hinter den hängenden Ruten eine seltsame Irritierung ausgemacht, ein fleischfarbenes Körpergebiet, mutwillig getarnt, vielleicht auch übermalt im Rahmen einer ikonografischen Umorientierung. Die Großzügigkeit der Szene ist womöglich nur vorgetäuscht.

Es mag bevorzugte Themen oder Reize geben, die nach einem Bild von Max Diel rufen, etwa (rhythmisierte) Körper, Wasser, Licht und Kurven, Augenblick und Stillstand, die optischen Echos der Schatten. Alltägliches und Zufälliges findet sich wieder in großen Formaten. Durch die Malerei scheinen die Motive jeweils in eine durchaus ähnlich klingende soziale, gelegentlich auch surreale Anmutung hineinzuwachsen, die zu der womöglich falschen Vermutung verleitet, es gäbe für alle Funde von Max Diel so etwas wie einen common sense. Die eigene Handschrift, letztendlich der fertigen Arbeit, produziert naturgemäß diese und ähnliche Rückprojektionen. Es sind auch nicht immer Postkarten, Familienfotos oder Ausschnitte aus Zeitungen oder Illustrierten, die ihn zum Malen verführen. Paraphrasen und Anlehnungen an die Kunstgeschichte sind möglich, es fallen im Gespräch schon mal die Namen von Vallotton, El Greco, Hodler auch Hitchcock. Die „Dacharbeiter“ von 2007 verweisen auf Caillebotte, freilich waren die Protagonisten dieses Schlüsselbildes ursprünglich Bodenschleifer. Die Paraphrase kommt von Anfang an als Deplatzierung daher. Auch wenn die figurale Disposition und der Ausschnitt des Originals im Wesentlichen unberührt bleiben, stellt der freie Umgang mit diesen Faktoren sicher, dass ein neues Bild kommt. Ansonsten ist Caillebotte in diesem Fall eine Vorlage wie viele andere und hat zu einer offenen Skizze, zu einem zeitgenössischen Gemälde geführt, bzw. verführt. Die Vorlage bindet nicht, verschiedene Motive kreuzen sich, sie werden ineinander verschoben.

Nur Bilder, die sich selber kritisch beäugen, machen heute noch einen Sinn, die Kunst kann im tagtäglichen Geben und Nehmen keine selbstzufriedenen Elaborate gebrauchen. Ein abwägendes Innenleben muss das Rückgrat aller Malerei sein. Das gilt für alle Bilder, die heute gemacht werden, egal ob sie figürlich oder abstrakt daherkommen. Die wie auch immer gestellte Frage: Was bin ich? wird vom Bild an die Betrachter weitergegeben. Der produktive Zweifel ernährt dementsprechend auch die Arbeit von Max Diel, ja, die Vorlage wird bei ihm gelegentlich (fast) zermalt! Dann verdickt sich die Farbe, das Material stöhnt. Da scheint einer zu modellieren, der Pinsel beißt zu, das Bild bleibt stecken. Max Diel greift zu deutlichen Mitteln. Er collagiert, er pflastert, die Malerei wird partiell neu erfunden. Er schneidet Figuren oder Details aus, er setzt Schablonen in das Bild, er übermalt sie. Neue Ebenen konkretisieren sich damit, ein zusätzliches Relief konkurriert mit der Farbe, die in der Regel doch dünn und eher flächig auftritt. Anders gesagt: Das Flachbild wird gesprengt. Die rein malerische Geste relativiert sich, manche der schönen Kurven werden richtiggehend vergewaltigt durch eine trotzige plastische Chirurgie auf der Suche nach exterritorialen Lösungen.

Die Collage will anecken, sie tritt auf, als sei sie mit einer überdimensionalen Nagelschere geschnitten; beim Basteln am imaginären Küchentisch, oder, um den wuchernden Assoziationsketten noch weiter freien Lauf zu lassen: Als hätte Frankensteins Monster sich zur Hausfrau gemausert, die hier scheinheilig Wäsche aufhängt. Die Malerei balanciert am Abgrund, sie spricht ihr Urteil über der Vorlage, die sie nicht mehr abschütteln kann. Die Idylle kriselt. Eine triviale Szene maskiert sich mit dem Mut der Verzweiflung, die Frau mit der Wäsche wird zum Opfer eines Exempels, bzw. zur Vorzeigefigur einer durch und durch ehrlichen Arbeit („Wäscherin I“, 2007). Dabei wirft der Malakt die humpelnde Figuration fast aus der Kurve und produziert seine eigene, attraktive Katastrophe. Die Narben werden mit stolzem Schmerz gezeigt. Sicher ist, dass aus dem Diskurs der Farben mit dem initiierenden Konzept der Vorlage ein unabhängiges Wesen herauskommt, und das ist auf seine Weise vielleicht sogar abstrakt, als Ergebnis eines ausufernden Malvorgangs. Im Verhältnis zur Vorlage entsteht fast so etwas wie ein Phantombild.

Der kritische, wie mitfühlende Betrachter verweilt bei solchen medialen Baustellen mit besonderer Vorliebe, weil sie einen charakteristischen Blick ins Innere freigeben. Außerdem schreibt sich hier die Zeit auf eine geradezu dramatische Weise in die Materie ein. Der Verarbeitungsprozess setzt seine Zeichen und deformiert die vorfertige Erinnerung. Der Essay gefällt sich in der überproportionalen Wahrnehmung solch heftiger Auseinandersetzungen mit der Vorlage, der Bildvorstellung und dem Material. Diese plastische Chirurgie lässt den gefälligen Blick über ihre Collagetechnik stolpern. Diejenigen, die das bislang vielleicht noch gar nicht bemerkt haben, sehen plötzlich nur noch das, die Narbe im Gesicht des Gegenübers. Und beim Blick zurück über den Rest des Bildes finden sich immer mehr Verwerfungen, eingebettet in das Relief der Malerei; unter der Oberfläche rumort es. Nicht immer bluten diese Bilder freilich so heftig, nicht immer malt Max Diel die Wunden des kriselnden Arbeitsprozesses. Das Grundvertrauen in die per se heilende Kraft der Malerei führt in den meisten Fällen zu ungebrochenen Lösungen, die teilhaben an der Vielschichtigkeit seiner Arbeit. Dann zeigt Diel sich verwurzelter, stiller und, was anrührt, ist gerade die Schönheit und der Reichtum des Lebens. Doch ist die Collage als Verstärkung und Herausforderung seines Ausdrucksbedürfnisses in den letzten zwei Jahren immer wichtiger geworden.

Die Wunden des Arbeitsprozesses, ihre ernsten wie ehrwürdigen Tragödien im heroischen Kampf um das Bild, produzieren manchmal auch heitere Gegenspieler, es kommt zu ironischen Übertreibungen. Ein Herr hängt Socken auf das Trockengitter. „Am Fenster“ (2005). Das Bild ist von einer seltsamen auch weichen Präzision, der illustrative Ausschnitt scheint aus einer Vorstadt-Reportage entnommen. Die stille Nachmittagsszene gerät auf eine schiefe Ebene, wenn klar wird, dass die Socken, die da auf der Leine hängen, echt sind; deshalb erlaubt sich der Untertitel auch den Hinweis „Sockenbild“. Die Realien, die hier eigentlich ideal platziert erscheinen, brechen die Malerei auf, die ironischen Requisiten bilden eine fruchtbare Irritation, die auch den figurativen Charakter in Frage stellt.

Die unscheinbaren Textilien, werden nicht eingemeindet, sie wirken viel eher wie falsche, jedenfalls zu laut gespielte Töne im großen Orchester. Was als Kosten-Nutzen-Rechnung eine Einzahlung auf das Konto des Hyperrealismus sein könnte, also echte Textilien in einem gemalten Bild, bringt die Bildrealität letztendlich zum Einsturz, weil zwei Strategien aneinander stoßen und sich dabei gleichsam neutralisieren. Das Bild wird zum anziehenden Wechselbalg, die Malerei sitzt zwischen den Stühlen. Eine andere lustvolle Übertreibung bedient sich wieder ganz unverkrampft in den Arsenalen der Kunstgeschichte. Eine Ikone wird als Bild im Bild („Ikone“ 2005) zitiert. Die Gesichter der Muttergottes und des Kindes sind ausgespart für eine abgehobene, patinierte Malerei, eine Doublierung hinter den ovalen Fenstern. Das ganze sie umgebende Feld, die Umgebung mit ihren souveränen Malkurven bildet im übertragenen Sinne ein Ornat, das die beiden stillen Porträts schützend und schmückend umgibt. Und neben der Anspielung auf die Ostkunst und ihre Heiligen, schleicht sich auch die Assoziation an Bilderwände, an Jahrmarktsattraktionen von gestern ein, die ein Loch für den eigenen Kopf frei ließen, damit man sich als Alexander der Große oder Napoleon fotografieren lassen konnte. Ist das, mit ihren heiteren, tragischen und assoziativen Brüchen noch Malerei, die sich aufs landläufige, allgegenwärtige Parkett der vielgeliebten, neuen Gegenständlichkeit bewegt?

Auch wenn das Wort ‚schön’ hier fahrlässigerweise schon gebraucht wurde, Max Diel malt keine schönen Bilder. Seine flüssige Technik, die von der gewählten Vorlage gelenkt, leichte, offene, ja entwerfende große Flächen bewältigen könnte, wird von einem kritischen Bewusstsein kontrolliert. Und da, wo das offensichtliche Grundvertrauen ungebrochen erscheint, hat zuvor vielleicht schon der Ausschnitt mit dekonstruktivem Mutwillen gewaltet und seine deutliche Vorliebe für Zwischenräume ausformuliert. Die Selbstkritik ist Teil der produktiven Irritierung; deshalb auch das gelegentliche Wüten über einigen schweren Stellen. Gesucht wird ein autonomes Wesen, das, angestoßen von einem Fundstück, zum medialen Eigensinn der Malerei führt. Lösungen wie aus einem Guß sind möglich, die Quadratur des Kreises ist schwer zu treffen, Botschaften über die Immanenz des Mediums hinaus, ziehen sich zurück und hallen doch in den Wahrnehmungsprozess. Bei aller Abstraktion, die sich mit der (verbalen) Bildbeschreibung, mit dem Aufspüren der Arbeitsprozesse einstellt, bleibt der Gegenstand ein primärer Orientierungspunkt. Es gibt freilich Grade der Entfernung davon, wenn man einmal davon absieht, dass die Vorlage als ‚Bild’, als Reproduktion bereits einen vermittelten Status repräsentiert. Ein Paradox kann aufgespürt werden: Ein Anlass, eine Situation muss stark genug sein, um Material für die Kunst des Findens zu sein, doch wenn aus der Fundskizze endlich ein Gemälde geworden ist, darf die Malerei selbst nicht durch die Prähistorie des Motivs gestört werden. Allenfalls der Titel kann noch ein wenig darauf verweisen. Die offensichtliche Figürlichkeit dieser Bilder verstummt, und das ist ein Teil ihres Geheimnisses.

Reinhard Ermen