Als ich die Vertretungsprofessur für Zeichnen und künstlerische Anatomie vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Möglichkeiten der Zeichnung an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig angeboten bekam, bedeutete dies für mich eine gezielte Auseinandersetzung mit den Themen: Zeichnung, Zeitgenössische Kunst und Künstleranatomie. Letztere war mir im Grunde wesensfremd. An den Akademien, an denen ich in Amsterdam und Berlin in den 90er Jahren studiert hatte, gab es dieses Fach nicht. Man hielt dies schlicht nicht für zeitgemäß. Ich mußte mir also einen eigenen Umgang mit dem Thema erschließen. Welche Quellen von Leonardo oder Vesalius sind noch oder wieder aktuell? Was hat Picasso, der sich in den 30erJahren verstärkt mit Vesalius auseinandergesetzt hat, aus diesem Thema gemacht? Was tragen Zeitgenossen, wie z.B. Damien Hirst zu diesem Thema bei?

Schnell merkte ich, daß ich meine eigene künstlerische Arbeit nicht von der Arbeit an der Hochschule trennen konnte. Aufgaben, welche ich mir für die Studierenden überlegte, wollte und sollte ich zunächst einmal selbst im Atelier ausprobieren. Das eigene Atelier wurde sozusagen zum Labor für die Arbeit an der Hochschule und die dortige Arbeit wirkte sich wiederum auf mein künstlerisches Schaffen aus.

Die Ausstellung Ecorché in der Galerie Lehr präsentiert nun die Ergebnisse dieses 2jährigen Prozesses.

Das Bild: AnatoMe (groß) von 2015 bezieht sich auf eine künstlerische Auseinandersetzung mit den Künstlern Jasper Johns und Edward Munch. Ich hatte zuvor in dem Bild Dancers on a plane (2014) ein Gemälde gleichen Namens von Jasper Johns aufgegriffen. Dieser wiederum hatte in einem anderen Bild mit dem Titel between the clock and the bed das Gemälde von Munch: Selbsportrait zwischen Uhr und Bett (1940-43) zitiert.

Als ich mich dem Thema des Ecorché Modells (künstlerische Bezeichnung für einen gehäuteten "Muskelmann") zuwandte, war ich noch ganz unter dem Einfluß von Jasper Johns Strukturbildern und sah zwangsläufig Parallelen zwischen Johns abstrakten Strukturen und dem Bündel von Muskelsträngen, welche, von ihrem funktionalen Kontext befreit, ebenfalls abstrakt wirken.

Die klassische Darstellung eines Ecorché Mannes mit auswärts gedrehtem Arm, wie man sie in zahlreichen medizinischen Lehrbüchern vorfindet, hat für mich stets einen starken "Ecce Homo" ("Hier ist er, der Mensch!") Effekt, begleitet von ikonographischen Assoziationen von Jesus Darstellungen.

Wenngleich der abgebildete Mann mir selbst nicht ähnelt, (tatsächlich orientierte ich mich beim Portrait an einer Aufnahme von Alan Delon aus dem Film M.Klein von 1975/76) so sehe ich darin doch so etwas wie ein Selbstbildnis, was sich auch im Titel AnatoMe ("Me" im Sinne von "Ich") wiederspiegelt. Gleichzeitig verweist das Bild auf Munchs besagtes Selbstportrait zwischen Uhr und Bett - hier stellt Munch sich selbst zwischen Uhr und Bett dar - die Uhr zur Linken und das Bett zur Rechten seiner selbst. Munch führt auf diesem Bild so etwas wie einen Klassiker in die Zeitgenössische Kunst ein. Das abstrakte Muster der Bettdecke, welches ich mit veränderten Farben auch in mein Bild aufgenommen habe, hat seit jeher Künstler wie Jasper Johns, Günther Förg oder TalR inspiriert.

Zwar fehlt in meinem Bild die Uhr, doch ist immerhin das Bett übriggeblieben und da es direkt hinter dem Protagonisten des Bildes steht, könnte man sich vorstellen, dass sich die Uhr im Raum des Betrachters, also außerhalb des Bildraums befindet. In diesem Fall schaute der Ecorché-Mann quasi aus dem Bild heraus auf eine Uhr.

Inhalte sind in meinen Bildern niemals monokausal. Ich folge eher einer Aussprache Erik Fischl`s, welcher sagt "Painting is a process by which I return my thoughts into feelings". Die Überlagerung diverser Gedanken und Assoziationen, welche scheinbar zufällige Begegnungen von Inhalten und Verweisungen ermöglicht, ist ein Grundanliegen meiner Malerei. So spielt der Aspekt der Häutung, der sich im Ecorché Thema vordrängt, natürlich auch eine symbolische Rolle. Sich Blöße zu geben und Inneres nach Außen zu kehren, hat zahlreiche Künstler, von Francis Bacon über Clemente und Chia bis hin zu Maria Lassnig und Marlene Dumas oder Hernan Bas immer wieder angetrieben und im bildnerischen Schaffensprozess bestärkt. Munch selbst erscheint dabei als eine Art "Übervater" dieser psychologisierenden Kunstgattung.

Auf formaler Ebene wird der Prozess der Häutung durch die Collage reflektiert. Hier trage ich überarbeitete, d.h. überklebte und übermalte Bildfragmente vorsichtig mit dem Cutter-Messer ab, (gleichsam wie ein Chirurg mit dem Skalpell) und lege zugrundeliegende Schichten von Farbe, Papier und Leinwand frei.

Das Thema der Darstellung und seine bildnerische Umsetzung sind in diesem Fall identisch. Beschränkt sich dieses Vorgehen in AnatoMe noch auf das Gesicht des Protagonisten, so ist es bei Ecorché am Wasser der gesamte Körper, der aus zahlreichen Papierschichten und gehäuteten Ebenen besteht und das Thema der Häutung zum vordringlichen Thema des Bildes überhaupt macht. Formale Referenzen an Papiercollagen eines Raymond Hains sind durchaus gewollt und möglich.

Um eine Analogie ganz anderer Art handelt es sich bei dem Bild Ecorché/Gerüst. Verfallene Gründerzeitviertel rund um Leipzigs Altstadtkern werden derzeit aufwändig renoviert. Dabei verwandeln die großflächigen blauen Abhängungen vor den Fassaden ganze Straßenzüge in Farbinstallationen. Hier spannt sich so etwas wie eine art Haut vor das Gebäude und läßt die Grundstruktur des Hauses bzw das Baugerüst wie ein Skelett oder eben ein Ecorché wirken. Diesen Gedanken habe ich in dem Bild Ecorché/Gerüst, welches zum Kartenmotiv für die Ausstellung wurde, aufgegriffen.

Der Betrachter des Bildes schaut quasi von Außen in das Innere des Menschen, sowie in das Innere des Gebäudes hinein und gemeinsam mit diesen auch wieder aus dem Bild und dem Gebäude heraus.

Max Diel, März 2016